GAZ 0317 ReichelsheimerJudenAnfang März besuchte die Klasse 10e der GAZ im Rahmen des Geschichtsunterrichts das Heimatkundemuseum in Reichelsheim. Hier erhielten die Schüler/innen vom ehemaligen Bürgermeister Gerd Lode wichtige Informationen zur Geschichte der Juden in Reichelsheim.

Die jüdische Gemeinschaft in Reichelsheim

August 2009 – Einschulung der Jahrgänge 2000 und 2001 an der Georg-August Zinn Schule. Feierlich rufen die neuen Klassenlehrer die Namen ihrer zukünftigen Schüler auf. Das neben typisch deutschen Namen wie „Müller“ und „Fischer“ auch Namen wie „Attatürk“ oder „Kowalski“ aufgerufen werden zeugt von der Internationalität Reichelsheims. Obwohl der jüdische Friedhof vor der Schule auf eine großen jüdischen Gemeinde hindeutet, werden die Kinder der Familie Reichelsheimer oder Marx nicht aufgerufen. Auch die Kinder der Familie Löb und Samuel sind heute nicht anwesend, genauso wie zahlreiche andere Kinder aus jüdischen Familien. Warum? Wegen einem der schrecklichsten Menschenverbrechen der deutschen Geschichte.

1648 - Der Dreißigjährige Krieg ist vorbei und schon kommt das nächste Unglück auf die angeschlagenen Völker des heutigen Deutschlands zu: die Pest. Reichelsheim, eine Stadt mit 400 Einwohnern, hatte trotz einiger Überfälle den Krieg recht gut überstanden. Und umso verheerender wütete dafür aber die Pest in der Stadt. Von den 400 Einwohnern fielen ihr 350 zum Opfer. Gespenstische Stille, wenn man durch die Straßen von Reichelsheim geht in denen nur noch wenige Häuser bewohnt sind, der städtische Markt ist nahezu ausgestorben.

Um Reichelsheim neues Leben einzuhauchen warb deshalb der Reichelsheimer Lehnsherr jüdische Kaufmannsfamilien aus Österreich und der Schweiz an, welche durch einen von ihm ausgestellten Freibrief Steuervergünstigungen bekommen sollten. Drei jüdische Familien folgten dem Aufruf und ließen sich in Reichelsheim nieder. Durch Heirat, Zuzug usw. wurde die jüdische Gemeinde schnell größer. In ihrer Blütezeit waren 300 der 700 Einwohner jüdisch, was dazu führte, dass eine Synagoge in der Darmstädter Straße gegründet wurde.

Da es den Juden per Edikt verboten war, ein Handwerk zu erlernen, schlugen sie den kaufmännischen Weg ein, was dazu führte, dass sie bald den Markt in Reichelsheim dominierten und ihn zu einem der wichtigsten in der Region Odenwald/Bergstraße machten. Als 1813 die Leibeigenschaft abgeschafft wurde, bekamen auch Juden die Bürgerrechte und der Schutzbrief verlor so seine Gültigkeit. Mit dieser Reform mussten sie sich nun auch einen Familiennamen geben, da sie traditionell den Namen des Vaters als Nachnamen hatten. Die 15 jüdischen Familien ließen sich von ihrer Umwelt inspirieren und gaben sich Namen wie „Reichelsheimer“ oder „Reichenberger“.

Juden und Christen lebten in Reichelsheim friedlich miteinander. Die Christen halfen ihren Nachbarn am Sabbat, indem sie Feuer machten oder Kochten und auch die Juden trugen ihren Teil zur Gesellschaft bei, indem sie die Wirtschaft in Reichelsheim am Laufen hielten.

Als dann 1914 der 1. Weltkrieg ausbrach, kämpften auch Juden aus Reichelsheim neben ihren deutschen Brüdern, von denen sie sich nur in ihrem Glauben unterschieden. Mit der Kapitulation Deutschlands 1918 wird es erst mal ruhig in Reichelsheim, bis 1930 ein Berufsverbot für Juden vom Hitler Regime erlassen wurde. Trotzdem durften die Juden bis 1938 handeln, bis man ihnen auch dies verbot. Man wollte so den Markt von Juden reinigen und einen „rein deutschen Markt“ aufbauen. Weil aber die Juden in Reichelsheim Grundpfeiler des Marktes waren, brach dieser noch im selben Jahr zusammen und wurde bis heute nicht wiederbelebt.

Aufgrund der gut integrierten jüdischen Gemeinde fand die NSDAP in den Jahren 1931-1932 wenig Anhänger in Reichelsheim und wurde lediglich von 1-2 Prozent der Einwohner gewählt. Trotzdem scheint mit der Zeit die Zahl der Unterstützer gewachsen zu sein, denn bei der entscheidenden Wahl wurde die Partei mit ca. 40% der Stimmen gewählt. Trotzdem wurde auch von Teilen der Reichelsheimer Bevölkerung Widerstand geleistet, nämlich von den Kommunisten und Sozialdemokraten, denen das Leben schwer gemacht wurde, indem man Parteienverbote und schwere bürokratische Hürden erließ. Viele von ihnen wurden auf Grund ihrer politischen Überzeugung in ein Arbeitslager nahe Worms gebracht.

Da sich die Juden zunehmend vor einer Deportation fürchteten schickten die Familien ihre Kinder ins Ausland und zogen, wenn das nötige Geld vorhanden war, nach. Dies führte dazu, dass von 1933 bis 1935 die Zahl der Juden von 120 auf 60 sank. Kinder deren Familien sich keine Überführung leisten konnten durften von nun an nicht mehr auf die normale Volksschule in Reichelsheim gehen, sondern wurden auf eine jüdische Schule in Michelstadt gebracht. 1938 wurde schließlich die Synagoge in der Darmstädter Straße von SA und SS- Truppen aus Bensheim zerstört. Die Reichelsheimer halfen ihnen dabei und zerstörten und schändeten weitere jüdische Familien und deren Besitz. Bis 1940 flohen aus der immer schlimmer werdenden Lage weitere 20 Juden aus Reichelsheim, was dazu führte das die jüdische Gemeinde nur noch aus 40, überwiegend älteren Menschen, bestand. Ab 1941 mussten nun die verbleibenden Juden einen gelben Judenstern tragen, der sie demütigen sollte. 1942 schrieb der damalige Bürgermeister an seinen Vorgesetzten, dass Reichelsheim nun „Judenfrei“ sei. Man hatte die restlichen Juden in verschiedene Konzentrationslager geschickt, wo den meisten einen wahrscheinlich schrecklichen Tod erwartet hatte.

Heute existiert in Reichelsheim keine jüdische Gemeinschaft mehr, und es erinnern nur noch stille Überreste an ihre ehemalige Existenz. So wurde vor den ehemalig jüdischen Häusern Stolpersteine verlegt, die an die damaligen Bewohner des Hauses erinnern sollen. Und da wäre noch der Judenfriedhof, der an die Georg-August Zinn Schule grenzt. Ja, denn unsere Schule ist Mahnmal selbst, denn der Namensgeber Georg-August Zinn (erster Ministerpräsident von Hessen) setzte durch, dass in Frankfurt die Verbrechen des Konzentrationslagers Auschwitz aufgearbeitet wurden und die Schuldigen ihre gerechte Strafe bekamen. Als Erinnerung für seinen Einsatz für die Rechte der Juden, bekam unsere Schule seinen Namen, passender Weise mit dem Friedhof daneben. Und so bilden die beiden eines der stillsten Mahnmäler in Reichelsheim, in dessen Turnhalle im August 2009 auch die Urenkel der damaligen Gemeinschaft unsere Mitschüler hätten werden können.

Text und Bild: Tim Bremicker, Klasse 10e

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