Am 10. November 2025 fand in der Aula der Georg-August-Zinn-Schule Reichelsheim (GAZ) eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 87. Jahrestags der Novemberpogrome des Jahres 1938 statt. Die Veranstaltung, die längst zu einer festen Tradition an der Schule geworden ist, wurde von der Fachschaft Geschichte unter der Leitung von Fachsprecher Dr. Dirk Strohmenger organisiert und richtete sich an die Abschlussklassen der GAZ.
Den musikalischen Auftakt bildete eine orientalische Melodie, vorgetragen von der Orchester-AG unter der Leitung von Joschka Althoff und Katrin Paul. Im Anschluss begrüßte Schulleiter Direktor Herwig Bendl die Anwesenden und hielt eine kurze Ansprache, in der er die Bedeutung des Erinnerns an die Ereignisse von 1938 hervorhob. Danach sprach Schulpfarrer Dieter Keim in seiner eindrucksvollen Rede „Gedenken und Schweigen“.
Musikalisch wurde die Veranstaltung durch das Werk „Warnung“ – aus jüdischer Volkspoesie von Dmitri Schostakowitsch bereichert, das von Doris Steffan-Wagner (Gesang) und Joschka Althoff (Klavier) eindrucksvoll interpretiert wurde. Anschließend präsentierten Schülerinnen und Schüler des DS-Kurses der Q-Phase unter der Leitung von Carsten Jonischkeit das szenische Spiel „Brauner Morgen“ nach dem gleichnamigen Text von F. Pavloff.
Darauf folgte ein besonders bewegender Moment, als Schülerinnen und Schüler die Namen der deportierten Jüdinnen und Juden aus Reichelsheim, Beerfurth und Fränkisch-Crumbach verlasen. Es schloss sich eine Schweigeminute an, die Dr. Strohmenger leitete. Zum Abschluss erklang das Stück „Jenseits der Stille“ von N. Reiser, gefühlvoll dargeboten von Katrin Paul (Klarinette) und Joschka Althoff (Klavier).
In seiner Rede stellte Schulpfarrer Dieter Keim eindringlich die Frage, was mit uns Menschen los sei, wenn wir auf die Gräueltaten des Nationalsozialismus blickten. Nicht „die Deutschen“ oder „die Juden“ seien hier zu betrachten, betonte Keim, sondern Menschen – Täter und Opfer gleichermaßen.
Im ersten Teil seiner Ansprache ging Keim auf das schwierige Verhältnis vieler Deutscher zu ihrem Land ein. Auf die Frage, worauf man stolz sein könne, würden viele Jugendliche vor allem mit Unsicherheit reagieren. Dabei, so Keim, gebe es durchaus Dinge, auf die man mit berechtigtem Stolz blicken dürfe: bedeutende Wissenschaftler, Philosophen, Demokraten, Menschen, die andere vor Verfolgung retteten, eine starke demokratische Verfassung mit Grundrechten und dem Bekenntnis zum Schutz Verfolgter. Diese Aspekte kämen jedoch in der Wahrnehmung oft zu kurz.
Im weiteren Verlauf zitierte Keim die amerikanische Philosophin Susan Neiman, die Deutschland dafür lobe, sich ehrlich mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben. Ihr Buch „Von Deutschen lernen“ beschreibe, dass Erinnerungskultur – Gedenkstätten, Gedenktage, das öffentliche Bewusstsein – beispielhaft dafür sei, wie ein Land Verantwortung übernehme.
In einem weiteren Abschnitt sprach Keim über die Sprachlosigkeit, die Täter wie Opfer nach den Geschehnissen oft ein Leben lang begleitet habe. Sein eigener Vater, so erzählte er, habe nie über den Krieg gesprochen, und auch viele Überlebende hätten geschwiegen. Dieses Schweigen, sagte Keim, sei einerseits ein Schutz, andererseits ein Zeichen der Unfassbarkeit des Erlebten. „Zu schrecklich, um es zu beschreiben, zu schmerzhaft, um es zu erwähnen“, zitierte er einen Zeitzeugen.
Zwei Gründe seien es, warum Gedenken heute unverzichtbar bleibe: Zum einen, um nicht zu vergessen und die Würde jedes Menschen zu achten, zum anderen, um an der richtigen Stelle zu schweigen. Schweigen dürfe nicht Verdrängen bedeuten, sondern eine Form des Respekts sein. Der Toten zu gedenken heiße, sie im Gedächtnis lebendig zu halten. Keim schloss seine Ansprache mit der Aufforderung, in der Erinnerung die Menschlichkeit zu bewahren und gerade in der Stille den Opfern Raum zu geben.
Mit der Gedenkveranstaltung setzte die Georg-August-Zinn-Schule ihre langjährige Tradition fort, sich aktiv mit der Geschichte auseinanderzusetzen und junge Menschen für die Bedeutung von Erinnerung, Verantwortung und Demokratie zu sensibilisieren.